Von Hervé Roten
Der Platz der Frau in der jüdischen Tradition ist ein häufiger Streitpunkt. Die Halacha – das jüdische Gesetz – verweist die Frau im Allgemeinen auf ihre Rolle als Hüterin des Hauses und als Erzieherin der Kinder. Das war aber nicht immer so.
Im Buch der Richter, welches die Geschichte der Israeliten zwischen der Eroberung des Landes Kanaan und dem Entstehen des Königtums erzählt, nimmt eine Frau einen bevorzugten Platz ein. Es handelt sich dabei um Deborah, die vierte Richterin Israels, Prophetin und militärische Anführerin. Um das 13. Jahrhundert v.Chr. berief sie einen Krieger namens Barak dazu, eine Armee aus dem Stämmen Naftali und Sebulon zusammenzustellen, um so das kanaanitische Heer von Sisera zu besiegen, welches im Dienste von König Yabin stand. Nach einem erbitterten Kampf wurde Sisera von Yael, einer anderen Frau getötet. Dieser Sieg führte zur endgültigen Niederlage des kanaanäischen Königs Yabin. Deborah stimmte daher mit Barak eine Hymne an, ein Siegeslied, welches wie eine Warnung an fremde Fürsten und Könige erklang, welche ein potentielle Bedrohung für die Israeliten darstellen könnten.
Über diese biblische Geschichte hinweg entsteht das Bild einer befreiten und dem Mann gleichgestellten Frau, welche nicht zögert, mit ihm zu singen. Einen weiteren Verweis, auf den weiblichen Gesang findet sich nach dem Erlebnis der Durquerung des Roten Meeres. Als sich die Fluten über dem Heer des Pharao schließen und die Hebräer auf ihrer Flucht retten, singen die Männer ein Lied für den Herrn (Schirat hayam). Dann tanzen und singen Myriam, die Schwester des Mose, und alle Frauen zum Klang des Tamburins (Exodus XV, 20-21). Dieser Moment zeigt Männer und Frauen, wie sie symbolisch durch den Gesang vereint werden.
Diese biblischen Bezüge hielten die rabbinischen Autoritäten Jahrhunderte später nicht davon ab, den Gesang der Frauen für unrein zu erklären. Da die weibliche Stimme Nacktheit ausstrahle und Männer so womöglich vom Gebet und Studium ablenken könnte, schreibt die Halacha vor, dass eine Frau nicht ein Gegenwart eines Mannes singen dürfe.
Aus diesem Grund war das häusliche Singen lange Zeit eine Domäne der Frauen. Dabei handelte es sich um Wiegen-, Hochzeits-, Trauer- oder Klagelieder, die den Lebenszyklus rhythmisieren. Während das Repertoire der Männer meist dem liturgischen Jahreskreis gewidmet ist, bezieht sich das der Frauen eher auf den Alltag und die materiellen Sorgen. Die Lieder sind oft in Volkssprachen (Arabisch, Jiddisch, Judenspanisch, Jemenitisch usw.). Die Mutter wiegt das Kind in den Schlaf und hofft für es auf eine gute Zukunft (Durme querido hijico). Manchmal beklagt sie die Abwesenheit ihres flatterhaften Mannes. In einigen jüdisch-spanischen Liedern ist es die Frau, die flatterhaft ist. Auch die Mutter gibt ihrer Tochter, die bald heiraten wird, wertvolle Ratschläge. Die Schwiegermutter beschimpft ihre Schwiegertochter und wirft ihr vor, ihr den Sohn gestohlen zu haben. Schließlich gibt es in einigen traditionellen jüdischen Gemeinden bei Trauerfällen noch „professionelle“ Klageweiber.
Es gab aber auch Ausnahmen von dieser Regel. Im mittelalterlichen Spanien wurden jüdische Frauen als Musikerinnen erwähnt[1]Vgl. Judith Cohen, « Le rôle des femmes-musiciennes dans l’Espagne médiévale au sein des communautés chrétienne, juive et musulmane », thèse de master, université de Montréal, 1980.. In der aschkenasischen Welt berichten verschiedene Quellen aus dem 15. bis 17. Jahrhundert von Beschwerden über Frauen, die in der Öffentlichkeit sangen. Jahrhunderts, als muslimischen Frauen das Singen verboten war, waren die größten Sängerinnen oft Jüdinnen wie Leyla Sfez, Zohra al Fassiya, Louisa Tounisia, Fritna Darmon oder die berühmte Hbiba Msika, eine freie Frau, die ihr Schicksal selbst in die Hand nahm und von der tunesischen Bevölkerung, aber auch von ganz Paris verehrt wurde.
In Westeuropa führte das Aufkommen der Haskala (der jüdischen Aufklärung) Mitte des 18. Jahrhunderts zu Reformen innerhalb des normativen Judentums. Eine Reihe von Frauen erhielt Zugang zu Bildung, die auf der westlichen Kultur basierte. Jahrhundert für Musikerinnen und Komponistinnen eine doppelte Hürde, da sie sich mit Antisemitismus und einer strikten Rollenverteilung zwischen Mann und Frau auseinandersetzen mussten. Ihre Hauptaufgabe war es, sich um Kinder, Haushalt und Ehemann zu kümmern. Doch einige Frauen setzten sich über diese antiquierten Vorstellungen hinweg und gingen ihren Leidenschaften nach. Die 1805 geborene Fanny Mendelssohn-Hensel, Schwester des Komponisten Felix Mendelssohn, ist dafür das beste Beispiel. Obwohl sie musikalisch sehr begabt war, musste sie sich nach den Warnungen ihres Vaters Abraham Mendelssohn auf ihre zukünftige Rolle als Musterehefrau vorbereiten und auf ihre „Schnörkel“ verzichten, die sie bei der harten und ständigen Arbeit als Hausfrau behindern würden. Das machte sie wütend. Doch ihr Mann, Wilhelm Hensel, erkannte ihr kreatives Potenzial und ließ sie machen, was sie wollte. Zu ihrem 29. Geburtstag malte er ihr ein Bild, auf dem Fanny Myriam ein Tamburin in der Hand hält – ein Symbol für die Akzeptanz ihrer Kunst.
Heutzutage wird der weibliche Gesang, je nach der Religiosität, auf vielfältige Weise ausgedrückt. In orthodoxen Kreisen ist der weibliche Gesang durch die Halacha streng geregelt. Bei den Traditionalisten vermischen sich männliche und weibliche Stimmen. Unter den Liberalen dürfen Frauen, die neben den Männern sitzen, uneingeschränkt singen. Einige Frauen haben auch das Amt der Hazzanit (weibliche Form von Hazzan, Kantorin). Unter den nicht-religiösen Juden, welche aber dennoch ihrer jüdischen Identität verbunden bleiben, wurde der Gesang zu einem hohen symbolischen Wert erhoben, was das wiederkehrende Interesse für jiddische, judäo-spanische und arabische Lieder erklärt, welche von männlichen wie auch weiblichen Sängern vorgetragen werden.
Hören Sie sich die Radiosendung an: Le chant judéo-espagnol des femmes du Maroc
Mehr über die CD von Naïma Chemoul (Maayan): Von Andalusien bis zum Orient… Der Gesang der sephardischen Frauen
1 | Vgl. Judith Cohen, « Le rôle des femmes-musiciennes dans l’Espagne médiévale au sein des communautés chrétienne, juive et musulmane », thèse de master, université de Montréal, 1980. |
---|