DIE JUDÄO-PORTUGIESISCHEN MUSIKTRADITIONEN IN FRANKREICH: Bordeaux, Bayonne, Paris

Von Hervé Roten

Im Rahmen eines Promotionsprojekts, erforschte Hervé Roten sieben Jahre lang die Musik der judäo-portugiesischen Gemeinschaften, unter allen möglichen Gesichtspunkten. Aus dieser Forschung resultieren wichtige Erkenntnisse, deren Quintessenz seine 1997 verteidigte Doktorarbeit offenbart. Die Arbeit wurde 1998, mit dem Preis der Association Zadoc-Kahn auszeichnet und 2000 im Verlag Editions Maisonneuve & Larose veröffentlicht.

Über rund acht Jahrhunderte hinweg, war die Iberische Halbinsel ein Ort der Begegnung der christlichen, muslimischen und der jüdischen Religion. Vom 11. Bis zum 15. Jahrhundert, eroberten die christlichen Könige nach und nach Spanien zurück; dabei verfolgten oder zwangsbekehrten sie viele Juden und Muslime. Im Jahr 1391 wurden so ganze jüdische Gemeinschaften ausgerottet und die Kinder der Gemeinschaften, entweder als Sklaven verkauft oder bekehrt. Aus Ablehnung der aufgezwungen Taufe heraus, praktizierte ein großer Teil der Conversos, weiterhin den Judaismus im Verborgenen. Im Jahr 1492 wurden die Juden aus Spanien vertrieben; ein Großteil von ihnen fand in Portugal Zuflucht. Diese Gastfreundschaft sollte allerdings nur von kurzer Dauer sein. Infolge eines Dekrets des portugiesischen Königs Manuel I., wurden die Flüchtlinge wiederum, entweder ausgerottet oder zwangsbekehrt. Die Vertreibung der Juden aus Navarra, im Jahr 1498, bedeutete das Ende der jüdischen Gemeinschaften auf iberischem Boden, nach dreizehn Jahrhunderten der ununterbrochenen Präsenz.

Dennoch blieben viele Krypto-Juden auf der Halbinsel. Diese Conversos, abwertend auch Marranos auf Spanisch und Marraos auf Portugiesisch genannt, mussten Verfolgungen und die spanische und portugiesische Inquisition, von 1481, bzw. 1536, erleiden. Auf der Flucht vor den Autodafés, schlossen sich mehrere hundert „Marranos“, bestehenden jüdischen Gemeinschaften (etwa in Amsterdam, London, Livorno oder in Hamburg) an und kehrten dort offen zum Judaismus zurück. Andere von ihnen wurden, unter dem Deckmantel ihrer christlichen Identität, ein Teil westlicher Gemeinschaften. Die neuen Christen, welche sich Mitte des 16. Jahrhunderts erst in Bordeaux und später dann auch in Bayonne niederließen, gehörten der letzterer Kategorie an.

Die Geschichte dieser „Marrano“-Gemeinschaften im Südwesten Frankreich, war bereits Gegenstand, zahlreicher historischer Forschungen, doch wurden dabei ihre musikalischen Traditionen nie umfassend erforscht. Diese Studie soll helfen, die Lücke zu schließen.

Zunächst wurde die musikalische Praxis der judäo-portugiesischen Gemeinschaft in Bordeaux, Bayonne und später auch in Paris, in ihren historischen, musikalischen und religiösen Kontext gesetzt. Nachdem die neuen portugiesischen Christen, um 1550 in den Südwesten Frankreichs kamen, mussten sie erst mehr als zwei Jahrhunderte warten, bevor sie öffentlich zum jüdischen Religion zurückkehren konnten. Über diese unbeständige Zeiten hinweg, zeugen einige wenige Belege, von der Existenz einer liturgischen und paraliturgischen Musikpraxis, deren Inhalt mangels musikalischer Aufzeichnungen, völlig unbekannt blieb. Im 19. Jahrhundert, begünstigten die Emanzipation der Juden in Frankreich sowie die Schaffung der Konsistorien durch Napoleon Bonaparte, die Entstehung einer polyphonen Chorpraxis, von der noch schriftliche Zeugnisse erhalten sind. Die Schriftstücke, welcher der Forschung als Grundlage dienen, stammen aus dieser Zeit. In der Folgezeit hielten einige Sänger und Chorleiter, zahlreiche judäo-portugiesische Gebetslieder fest. Im 20. Jahrhundert, führte ein deutlicher demographischer Rückgang, zum Zerfall der Gemeinschaften von Bayonne und – in geringerem Maße – auch der von Bordeaux. Die vom Aussterben bedrohten Gemeinschaften, wurden durch die Ankunft der Juden aus Nordafrika in den 1960er Jahren gerettet. Angesichts des drohenden Verschwindens des portugiesischen Ritus, wurde in den frühen 1980er Jahren, eine Kampagne der systematischen Aufzeichnung, durch verschiedene Forscher des C.N.R.S. der Hebräischen Universität Jerusalem und der Assocation Yuval, ins Leben gerufen.

Die so gesammelte Dokumentation, umfasst mehr als hundert Kassetten und zehn Sammlungen von Partituren. Diese Quellen, welche ein Beleg für die fast zwei Jahrhunderte anhaltende musikalische Praxis sind, bieten sowohl eine diachrone als auch eine synchrone Sichtweise der judäo-portugiesischen Musiktraditionen in Frankreich. Sie werfen außerdem aber auch eine Reihe von Fragen auf. Ist diese Unterscheidung, auch wenn bestimmte Informanten darauf beharren, dass es einen Unterschied zwischen den Riten von Bordeaux, Bayonne und Paris gibt – und in dem Wissen, dass es immer schon eine Verbindung zwischen diesen drei Gemeinschaften gegeben hat – tatsächlich begründet? Mit anderen Worten: Sind die Musiktraditionen von Bordeaux, Bayonne und Paris verschieden, oder handelt es sich um dieselbe Tradition mit lokalen Variationen? Hat es in den letzten zwei Jahrhunderten eine Veränderung der Gebete gegeben oder nicht? Mit anderen Worten: Gibt es aus diachroner Sicht, eine Kontinuität oder eine Entwicklung der Traditionen von Bayonne, Bordeaux und Paris von 1812 bis heute? Und schließlich, welche Beziehungen bestehen innerhalb dieser Traditionen zwischen dem Gesprochenen und dem Geschriebenen? Besteht ihre Begegnung insbesondere auf Identifikation oder auf Abgrenzung, auf Zusammenleben oder auf Konfrontation?

In Anbetracht des Umfangs und der Heterogenität der Dokumentation, war es unerlässlich, einen begrenzten, wie auch homogenen Korpus auszuwählen. Synagogenmusik ist organisch mit den verschiedenen liturgischen Ereignissen des jüdischen Jahrs verbunden; daher wurde Reihe von Liedern desselben religiösen Anlasses – dem Neujahrstag (Rosch ha-Schana) – ausgewählt.  in vielerlei Hinsicht – vor allem was die Verteilung von mündlichen und schriftlichen Dokumenten, in den drei portugiesischen Gemeinschaften und was die Anzahl an Dokumenten aus jeder Gemeinschaft betrifft – bilden die Gebete dieses Festes, einen kohärenten Korpus.

Nachdem der Korpus bestimmt war, wurden zahlreiche Transkriptionen erstellt. Dabei unterliegt die Transkription von Musik der mündlichen Tradition, nicht den gleichen Erfordernissen wie die Transkription von Kulturen mit musikalischen Notationen.

Aufgrund der Variabilität des musikalischen Geschehens, muss eher der beschreibende Aspekt und die Tonstruktur hervorgehoben werden als der Detailreichtum. Die von Nicolas Ruwet, Gilbert Rouget und Simha Arom initiierte paradigmatische Transkription, hat es ermöglicht, die musikalische Systematik der Lieder von Rosch ha-Schana zu erschließen.

Es entsteht so das Bild einer funktionalen Musik innerhalb eines geregelten Systems. Die Form der Gebete ist mit der Artikulation des Textes verknüpft: Ist die Artikulation metrisch, wird eine melodische Einheit – bestehend aus einem Vers oder einer Strophe – auf eine streng regelmäßige Weise wiederholt; ist das nicht der Fall, verläuft die Musik in Variationen und/oder Einschüben von Formel, um eine Übereinstimmung zwischen der musikalischen und der liturgischen Syntax herzustellen. Diese beiden formalen Verfahren treffen, auf den Großteil der Gebete zu.

Die Lieder stehen in der Regel mit der Modalität in Verbindung. Nachdem definiert wurde, was unter diesem Begriff zu verstehen ist, wurde festgestellt, dass die Gebete von Rosch ha-Schana vier Modi besitzen, welche jeweils durch ein kadenzielles Muster definiert sind, welche wiederum die Rezitationskette mit der Finalis verbindet. Je nach Länge des Textes, kann dieses Muster verkürzt oder verlängert werden. Es kann sich auch aufspalten und dabei andere melodischen Elemente hervorbringen, welche dem Prinzip der formativen Teilung folgen. Die so erschaffenen Formeln, ordnen sich um das kadenzielle Muster– einer echten Meta-Formel – herum an und übernehmen dessen melodische Kontur. Manchmal werden sie auch auf einfache Stickereien reduziert, welche sich wellenförmig um die finale Note legen.

Auch wenn die Formeln von einem Gebet zum anderen oft identisch sind, ändert sich doch ihre Position im Gesagten, je nach dem verwendeten Modus. Diese Musik wird daher durch die Anwendung eines Prozesses der Centonisation bestimmt.

Die ungemessenen Gebete, bestehen aus prototypsichen musikalischen Formeln, welche in einer durch den Modus des Stücks, sowie die Struktur des liturgischen Textes bestimmten Reihenfolge, verbunden sind. Die kadenzielle Formel kennzeichnet in der Regel das Ende der Phrasen; eventuell ist ihr eine semikadenzielle Formel vorangestellt, welcher wiederum andere Arten von Formeln (signalisierend, medial, interkalierend, verstärkend oder initial) vorausgehen können.

Gemessene Gebete verwenden das gleiche formale Material wie ungemessene Gebete. Jedes Stück – mit einer sich in der Regel streng wiederholenden Form – besteht aus einer, simplen und einfach zu behaltenden Melodie.

Nach der Analyse der musikalischen Systematik der Liturgie von Rosch ha-Schana wurde eine komparative Studie, der verschiedenen Stücke des Korpus angestrebt. Die Paradigmatisierung mehrerer Versionen – mündlich und schriftlich; aus Bordeaux, Bayonne und Paris – desselben Gebets ermöglichte es festzustellen, dass die Traditionen der drei judäo-portugiesischen Gemeinschaften zu einer einzigen Tradition gehören, mit einigen lokalen Variationen, was insbesondere in den Liturgien von Bayonne und Bordeaux zu bemerken ist – dabei ist die Liturgie von Paris mehr oder weniger identisch, mit der Liturgie von Bordeaux.

Es konnte außerdem festgestellt werden, dass die Chorarrangements und die Harmonisierung traditioneller Melodien, zu Beginn des 19. Jahrhunderts, bedeutende Veränderungen in der judäo-portugiesischen liturgischen Musik einleiteten: bestimmte modale Gebete, wurden durch das Hinzufügen von Alterationen „tonalisiert“; andere Stücke, welche über freie Rhythmen verfügten, wurden mit einem strengen rhythmischen Rahmen versehen. Die Rezitative – von denen es in der Liturgie zahlreiche gibt – entgingen in der Regel dieser tonalen Behandlung. Dennoch weisen bestimmte Anhaltspunkte – wie die gelegentliche Veränderung des Tons, welcher der Finalis vorausgeht oder die Einarbeitung chromatischer Halbtöne – auch in diesem Repertoire, auf einen gewissen Einfluss der Tonalität hin.

Demnach haben sich die judäo-portugiesischen Musiktraditionen mit der Verschriftlichung eben dieser Traditionen entwickelt. Paradoxerweise, gilt heute vor allem diese Verschriftlichung als Garant für die judäo-portugiesische Authentizität. Die heute in den Gemeinschaften von Bordeaux und Paris tätigen Kantoren, haben ein Großteil der portugiesischen Liturgie aus Notenbüchern erlernt. Die mündliche Tradition hängt also von der Verschriftlichung ab. Doch das soll nicht heißen, dass sie vollkommen verschwunden ist. Unter dem Einfluss der Gläubigen und der aus Nordafrika stammenden Kantoren, setzte der portugiesische Ritus seine Reise fort, welche ihn ans Mittelmeer zurückführte.

Von der Iberischen Halbinsel vertrieben, entwickelte sich dieser Ritus zunächst an der Nordseeküste, bevor er schließlich an die Atlantikküste gelangte. Ist auf den Aufnahmen also ein Lied wie Leel elim zu hören, welches für ein traditionelles Stück von Bayonne gehalten wird und in Wahrheit dann aber zu dem angestammten Repertoire der Amsterdamer Gemeinschaft des 18. Jahrhunderts gehört, kann der kulturelle und historische Austausch, welchen es damals zwischen den beiden Städten gegeben hat, besser nachvollzogen werden.

Diese4 Austausch macht die Probleme der jüdischen Musik deutlich.  Aus der hebräischen Antike stammend, wurde sie durch etliche exogene Schichten bereichert, die Frucht der Reisen eines sich auf der Suche nach einer neuen Heimat befindenden Volks. Auch die judäo-portugiesischen Musiktraditionen sehen sich diesem Schicksal ausgeliefert.

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Hören Sie sich die Radiosendung an Musiques judéo-portugaises – Les traditions musicales des anciennes communautés marranes du sud-ouest de la France

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