DIE KLEZMER: MUSIK VON GESTERN UND HEUTE

Von Hervé Roten

Die Klezmer ist eine instrumentale Festmusik, welche einst in den jüdischen Gemeinschaften Osteuropas zur Begleitung von Hochzeiten oder fröhlichen religiösen Festen, wie dem Purim-Fest, der Tora-Feier (Simhat Torah) oder auch der Synagogen-Einweihung, gespielt wurde. Wie ein Großteil der jüdischen Musiktraditionen, handelt es sich auch bei der Klezmer um eine Exilmusik [1]Wie kann vergessen werden, dass das jüdische Volk mehr als die Hälfte seiner Existenz außerhalb seiner nativen Heimat verbracht hat? Bis zu dem Punkt, dass der griechische Begriff „Diaspora“ … Lire la suite. Die Klezmer wurde stark geprägt von ihrer geographischen und kulturellen Umgebung. In Osteuropa, einem Konglomerat von Völkern und Sprachen, waren diese Umgebungen überaus fließend. Die Klezmer-Musik entlieh da und dort Elemente und schuf so eine umfangreiche und vielfältige Musik-Praxis, welche sich über die Zeit entwickelt hat und noch immer entwickelt.

Um das Klezmer-Phänomen verstehen zu können, muss untersucht werden, wie ein musikalisches Genre entsteht, sich verändert und über die Zeit hinweg entwickelt. Darüber hinaus muss die Musik auch in ihrem Kontext verstanden werden, d.h. die Musik wie sie in einer bestimmten Gesellschaft besteht und welche Wechselwirkungen es zwischen Musik und Gesellschaft zwangsläufig gibt.

Etymologie
Der Begriff „Klezmer“ leitet sich vom Hebräischen „Kli zemer“ ab, was so viel wie „Instrument des Gesangs“ bedeutet. Erstmals wird der Begriff in einem Manuskript des Trinity College von Cambridge aus dem 16. Jahrhundert verwendet, in welchem sich „Klezmer“ erstmals nicht auf das Instrument, sondern auf den Musiker bezieht [2]Ein nicht unbedeutender Teil der Dokumentation des vorliegenden Artikels entstammt der Internetseite von Michel Borzykowski (http://borzykowski.users.ch), welcher eine bemerkenswerte Synthese-Arbeit … Lire la suite. Die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs ist abwertend, da „Klezmer“ umgangssprachlich einen Dieb oder einen Kriminellen bezeichnet. Im frühen 20. Jahrhundert wurde der Begriff verwendet, um einen autodidaktischen Musiker zu beschreiben, welcher Volksmusik nach dem Gehör spielte. Der in Polen geborenen Sänger Shalom Berlinski (1918-2008) meinte: „Von 1920-30 gab es noch keinen klar definierten Begriff für Hochzeitsmusiker. Der Begriff „Klezmer“ – der doch heute in allen möglichen Situationen verwendet wird – war eine abwertende Bezeichnung für eine armselige Person, welche vulgäre und unkultivierte Musik spielte. Klezmer waren keine sehr beliebten Musiker. Im Spiel fügt ein jeder Musiker der Musik seine eigene Harmonie und was immer ihm eben in den Sinn kam oder ihn inspirierte, hinzu.  Es war nicht viel wert, es war gar nichts wert“ [3]Interview mit dem Kantoren Shalom Berlinski (1918-2008), geführt am 24. September 2003, aufgenommen von H. Roten.. Heutzutage ist der Begriff für den Musiker zu einer lobenden Bezeichnung geworden. Im allgemeinen Sprachgebrauch bezeichnet der Begriff nun auch die traditionelle jüdische Musik Osteuropas, sowie ihre zeitgenössischen Derivate.

Historischer Hintergrund
Die heutigen Klezmer stehen in der Nachfolge der jüdischen Wandermusiker, deren Spuren bis in die Römerzeit zurückreichen. Bis zum späten Mittelalter schlossen sich viele Juden, der universellen Klasse der Akrobaten und anderer Unterhaltungskünstler an. Paradoxerweise garantierte ihnen ihr niedriger sozialer Status als Musiker, eine gewisse Form von Nachsicht, welche ihren wohlhabenderen Mitreligiösen nicht zustand. Es finden so jüdische Musiker, sowohl in Verbindung mit Höfen christlicher Könige wie auch mit Höfen muslimischer Kalifen, Erwähnung.

Die jüdischen Spielleute und Gaukler boten ein internationales Repertoire dar, welches hauptsächlich aus Liedern, Instrumentalstücken, aber auch Rezitationen von langen Epen und verschiedenen Arten von Gedichten bestand. Im 13. Jahrhundert spielten sie gemeinsam mit den provenzalischen Troubadoure, mit den Trouvères aus Nordfrankreich und den Minnesängern aus den Ländern jenseits des Rheins.

Ab dem 16. Jahrhundert wurde die instrumentale Spielart der Klezmer stark eingeschränkt, einerseits durch zivile Behörden, die nur einer begrenzten Anzahl von Musikern eine Spiel-Erlaubnis erteilten (in Metz waren im 17. Und 18. Jahrhundert nur drei Musiker – vier, bei Hochzeiten – erlaubt), andererseits durch die jüdische Religionsbehörde selbst, welche die Begeisterung der Gläubigen von dieser nicht mit der jüdischen Ethik konformen Musik, mit Argwohn betrachtete.

Dennoch wurden die Klezmer regelmäßig von Gemeinschaften eingeladen, bei verschiedenen festlichen Anlässen zu spielen. In Prag, wo die Klezmer eine richtige Gilde bildeten, herrschte ein reges musikalisches Leben. Der Sabbatbeginn war der Anlass für an Konzerte anmutende Vorspiele geistlicher Musik. So gab es in Prag beispielsweise 1678 eine große Prozession mit mehr als zwanzig Instrumentalisten, einem Chor bestehend aus Kantoren und Hilfskantoren und zwei Chören der Gemeinde. Außerdem wurden die Klezmer für Feste benötigt, welche die Gemeinschaft zu Gunsten des regierenden Kaisers gab. Doch derlei Anlässe gab es nicht alle Tage. Damit der jüdische Berufsmusiker seinen Lebensunterhalt verdienen konnte, trat er daher auch für ein christliches Publikum auf.  Demnach agierten die Klezmer als Brückenbrauer zwischen der jüdischen und der nicht-jüdischen Welt. So ergab es sich, dass jüdische Musiker in lokalen Orchestern und nicht-jüdische Musiker in jüdischen Orchestern, welche kapelyes, kompaniye oder orkestr genannt wurden, spielten. Es entstand so ein tagtäglicher musikalischer Austausch, zwischen Juden und dem Fahrenden Volk [4]Dieser Austausch zwischen Juden und dem Fahrenden Volk ist das Ergebnis eines gemeinsamen Schicksals (gleicher niederer sozialer Status, Wanderleben), sowie einer Vorliebe für orientalisch … Lire la suite.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wanderten Hundertausende von Juden aus Mittel- und Osteuropa auf der Flucht vor Pogromen und Elend in die Vereinigten Staaten aus. Unter ihnen waren viele Musiker, welche in Theatern, Kabaretts, Hotels, Cafés, im Zirkus und später auch in Kinos, Arbeit fanden. Die amerikanisch-jüdische Gemeinschaft war weiterhin auf der Suche, nach Klezmer-Musiker für Hochzeiten und andere traditionelle Feiern. Bald verfügten sie über eigene Cafés, Restaurants, Kabaretts und Radiostationen, in welchen die jüdischen Musiker auftreten konnten. Das jiddische Theater war auch ein Ort der kreativen Entfaltung von Sängern, Musikern und Komponisten. Eine neue Generation von Schauspielern und Sängern, wie Aaron Lebedeff (1873-1960) und Molly Picon (1898-1992), entstand in dieser Zeit.

Während des Zweiten Weltkriegs verschwanden die Juden durch die Nazi-Barbarei („Judenrein“) aus Mittel- und Osteuropa. Ganze Gemeinschaften verschwanden und nahmen eine jahrhundertealte Kultur mit sich. Doch in den Vereinigten Staaten konnte die Klezmer-Musik überleben und sogar zu einer Tanz- und Festmusik gedeihen, dank Musiker wie Abe Schwartz (1881-1963), Harry Kandel (1885-1943), Naftule Brandwein (1889-1963) und Dave Tarras (1897-1989). Auch die amerikanische Schallplattenindustrie witterte ihre Chance auf Gewinne und interessierte sich, Ende des 19. Jahrhunderts bereits, für dieses Repertoire. Zwischen 1894 und 1942 entstanden so, rund 50000 Schallplatten jüdischer Musik.

Nach dem Zweiten Weltkrieg geriet die jüdische Musik durch den Trend, zur kulturellen Assimilation und zum Zionismus, welcher unter den amerikanischen Juden vorherrschte, in Vergessenheit. Die Gründung des Staates Israel brachte eine neue kulturelle und sprachliche Agende mit sich, welche nicht länger nach Osteuropa blicket; Hebräisch ersetzte das Jiddische und die neu entstandene israelische Kultur, wurde zu einem verbindlichen Bezugspunkt der Diaspora.

Dennoch erwachte in den 1970er-80er Jahren, neues Interesse für die jiddische Kultur. Durch die Arbeit einiger Wegbereiter, wie dem Klarinettisten Giora Feidman, Henry Sapoznik (von der Gruppe Kapelye) und Lev Liberman (The Klezmorim) kehrte eine Musik zurück, welche man durch den gleichen Zufall „Klezmer“ nannte, wie die irische Musik „keltisch“ genannt wurde.

Von den Vereinigten Staaten aus, erreichte diese „neue Welle“ die Klezmer bald Europa und Israel. 1970 hatte die Klezmer-Revival-Bewegung 3 Orchester in den Vereinigten Staaten; 1990 gab es schon 50, darunter allein 10 im New Yorker Raum[5]PAYEN Dominique, La musique klezmer et les klezmorim de Berkeley, mémoire de Maîtrise, Université de Rouen, oct. 1990, p. 31.. In Frankreich werden jedes Jahr neue Klezmer-Musikgruppen gegründet, dabei steigt die Zahl der musikalischen Aufnahmen dieses Genres kontinuierlich. Fachleute sind sich einig: „Etwas mehr als zwanzig Jahre später als in den Vereinigten Staaten, fegt das Klezmer-Phänomen nun über Frankreich hinweg und betrifft nicht nur professionelle Musiker, sondern auch Amateure. Letztere melden sich vermehrt zu „Klezkamps“ nach französischen Vorbild an. Eines dieser „Klezkemps“ wurde im Februar 2003 erstmals im Pariser Maison de la Culture Yiddish veranstaltet, außerdem gibt es  die Klezmerschulung „Yiddishland à la rencontre des Cévennes“, deren vierte Ausgabe im Juli 2003 stattfand.

Wenn die Klezmer auch in jedem Fall lebt, hat sie sich doch stark entwickelt: Bezeugt wird diese Entwicklung sowohl von den Instrumenten als auch dem gespielten Repertoire.

Die Instrumente der Klezmer-Musik
Die Klezmer-Instrumente sind seit jeher sehr vielfältig. In erster Linie wird auf die Geige und andere Streichinstrumente (Bratsche, Cello, Kontrabass), aber auch Klarinette, Flöte, Trommel und Becken sowie die im 20. Jahrhundert hinzukommenden Blasinstrumente, aufgebaut. Henry Sapoznik zufolge „war das Wichtigste ihre Fähigkeit, das lokale Repertoire zu spielen, sowie die Möglichkeit, vor Ort produziert und repariert zu werden und auch ihre Transportierbarkeit[6]SAPOZNIK Henry, Klezmer! Jewish Music from old World to Our World, New-York, Schirmer books, 1999. .

Im 17. und 18. Jahrhundert bestanden Klezmer-Ensembles hauptsächlich aus einer Laute oder einem kleinen Ensemble von Streichinstrumenten – in der Regel bestanden diese aus zwei  Violinen und einer Viola de Gamba. Manchmal wird auch das Cymbalom (eine Tischzither, welche mit einem kleinen Schlegel angeschlagen wird) eingesetzt, dessen weicher, wirbelnder Klang das virtuose Spiel der Violine ergänzte.

In der Ukraine des 18. Und 19. Jahrhunderts teilte ein Gesetz die Musikinstrumente in zwei Klassen ein: „laut“ (Blechbläser und Schlagzeug) und „leise“ (Streicher und Flöten). Juden durften nur die zweite Instrumentenklasse spielen. Doch, etwa im Zeitraum der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wurden erst Blasinstrumente, insbesondere die Klarinette und dann allmählich auch Blechblässer, zweifellos im Zusammenhang mit Militärkapellen und Konskriptionsmusik, in Klezmer-Ensembles aufgenommen. Ebenfalls sehr beliebt war das Knopfakkordeon des späten 19. Jahrhunderts, doch da es auch teuer war, blieb es doch eher selten vertreten. Perkussionsinstrumente blieben oft auf eine einfache Trommel (Tshekal) oder eine große Trommel (Puk oder Baraban) mit oder ohne Becken (Tats) beschränkt.

Ende des 19. Jahrhunderts, wurden in dem Bestreben, ein besseres Gleichgewicht zu erreichen, mehr Streichinstrumente integriert. So entstanden größere Orchester.

Die ersten Aufnahmen – in Europa ab 1897 und vor allem in den Vereinigten Staaten – beeinflussten auch die Zusammensetzung der Orchester. Auf ersten bekannten Aufnahmen der Klezmer-Musik sind vor allem kleinere Ensembles zu hören, welche in der Regel aus zwei Geigen und einem Cymbalom, eventuell noch einem Akkordeon, bestanden. Allmählich kam es jedoch dazu, dass die Plattenfirmen aufgrund der technischen Aufnahmemöglichkeiten, Blasinstrumente und Blechbläser bevorzugten, da der kraftvollere und direktionale Klang der Blechbläser für die Aufnahme besser geeignet war als der Klang der Streichinstrumente. So ersetzte die Tuba den Kontrabass. In den Vereinigten Staaten wurden unter dem Einfluss des Jazz auch das Saxofon und das Banjo eingesetzt. Heutzutage können von der Weltmusik beeinflusste Klezmer-Ensembles, nicht nur Gitarren, Klaviere, sondern auch ethnische Instrumente wie das Didgeridoo oder die Tabla enthalten!

Das Repertoire
Die Musikder Klezmer ist überaus vielgestaltig. Der chassidischen Bewegung [7]Der Chassidismus ist eine mystische Bewegung, welche in Podolie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts gegründet wurde. Die Bewegung spricht sich aus, den Zugang zu Gott durch Musik und Tanz … Lire la suite hat sie Freude, Inbrunst und die Niggunim, jene wortlose leicht einprägsamen und wiederholbare Melodien, entlehnt. Sie versah sie mit einer subtilen Mischung aus populärer jüdischer Melodien, weltlicher Tanzmusik und synagogaler Musik. Wie es auch in der Klezmer-Kunst der Fall ist, beinhaltet auch der aschkenasische Kantorenstil (Hazzanout) viele Verzierungen. Außerdem werden auch die gleichen Modi und sogar die gleichen Themen verwendet. Dieser Einfluss der Hazzanout auf die jüdische Instrumentalmusik, zeigt sich in den Namen bestimmter Ornamente, wie etwa dem Krachs (Seufzer), welche direkt aus der Kantoren-Tradition abgeleitet sind.

Vor allem bei jüdischen Tänzen und Zeremonien erblühte die Klezmer; jeder Anlass hatte eine eigene Art von Musik: Niggunim wurden vor allen zu Essen und zur Andacht gespielt. Doch der Großteil des Klezmer-Repertoires war traditionellerweise mit Hochzeiten verbunden, enthalten war nicht nur Tanzmusik (Broyges Tants: Versöhnungstanz zwischen Schwiegermüttern; Patsh Tants: Händeklatschen; Freilekh: Kreistanz; Sher: Quadrille; usw.), sondern auch rituelle und prozessuale Musik (Kommen und Gehen der Gäste, die Prozession des Brautpaars unter dem Brautbaldachin (der Chuppa), usw.).

Das Klezmer-Repertoire umfasst im weitesten Sinne auch zahlreiche traditionelle wie auch modernere jiddische Lieder. Dabei ist es nicht verwunderlich, wenn man einerseits weiß, dass traditionelle Hochzeiten von einem Badkhan ausgerichtet wurden, einem Zeremonienmeister, eines improvisierenden Komikers, Parodisten oder Moralisten und sogar eines Sängers spielte; und andererseits, dass das Purimfest (welchen an die Rettung der Juden Persien durch Königin Esther erinnert) auch Anlass für Aufführungen (Pourimshpil) mit Musikern, Schauspielern und Sängern war.

Trotz des vielfältigen Repertoires, handelt es sich bei der Klezmer doch um ein Musikgenre, welches auch für Laien leicht zu identifizieren ist.  Was sind die wichtigsten musikalischen Merkmale der Klezmer?

Musikalische Systematiken
Der Aufbau der Klezmer-Musik ist der orientalischen Musik entlehnt: Die Melodie steht im Vordergrund und der Diskurs entwickelt sich linear durch Verzierungen und modale Improvisation. Doch was am Meisten beim Hören der Klezmer-Musik auffällt, ist ein Gefühl von Freiheit, oder sogar von klanglichem Durcheinander. Als ob alle Instrumente, zur selben Zeit erklingen würden! Dennoch übereinstimmen alle Instrumente doch in einer Hinsicht, sie beziehen sich auf das gleiche melodische Modell, dieses wird jedoch von jedem Instrument auf andere Weise entwickelt. Es handelt sich um eine Beziehung der Heterophonie, wie sie auch in der Synagoge herrscht, wenn ein jedes Gemeindemitglied das Gebet in seiner eigenen Tonlage und Geschwindigkeit, mit einer jeweils unterschiedlichen Sprechweise und Verzierung anstimmt.

Die Harmonie ist nicht gänzlich abwesend; unterliegt jedoch der Melodie: So kann ein einziger Akkord für einen ganzen Abschnitt des Stücks ausreichen, sei es für 8, 16 oder 24 Takte! Aus der Reibung zwischen der Melodie und der zugrundeliegenden Harmonie werden die Dissonanzen hervorgebracht und die für diese Musik typische melodische Spannung erzeugt.

Die Verzierung ist stark ausgeprägt und abwechslungsreich (Krekhts: Stöhnen, Dreydelekh: Grupetto, Tshok: Klappern, usw.). Vibrato werden selten eingesetzt, doch die langen Noten werden oft mit Trillern akzentuiert. Die Glissandi werden häufig von Geigern, aber auch von anderen Musikern gespielt. Schließlich wird der Ansatz einer Note oft durch ihre untere Appoggiatura erzeugt.

Die Improvisation wird in der Klezmer-Musik häufig eingesetzt. Ursprünglich bestand diese darin, dass die Ausdrucksweise, die Betonung oder die Verzierungen einer Melodien verändert oder auch, dass „Ausschmückungen“ hinzugefügt wurden. Doch diese Konzeption hat sich natürlich im 20. Jahrhundert unter dem Einfluss des Jazz mit dem Aufkommen von Soli, welche auf den Akkordrastern des Themas basieren, stark weiterentwickelt.

In der Klezmer-Musik werden hauptsächlich fünf Arten von Modi verwendet: den Dur-Modus, die Moll-Modi (natürlich, harmonisch und aufsteigend harmonisch) und drei synagogale Modi (Shtaygerim[8]Der Shtayger (oder Steiger) – ein Begriff der auf Jiddisch „Modus“ „Art / Weise“ bedeutet – ist ein melodisches Muster, welches dem Kantor als Grundlage für die Improvisation dient. Sie … Lire la suite): Ahava Raba (große Liebe), Mi Sheberakh (der Segnende) und Adonoi Molokh (Gottkönig) benannt nach dem Incipit bekannter Gebete. Diese Shtaygerim sind durch eine formale Modalität definiert, welche der arabischen (Maquamat) oder indischen (Raga) Modalität sehr ähnlich ist. Sie können eine Anzahl von Noten verwenden, welche tiefer oder höher als die Oktaven sind (in diesem Fall übereinstimmen die Noten der höheren Oktaven nicht notwendigerweise mit den Noten der tieferen Oktaven: Vgl. Adonoi Molokh); die aufsteigenden oder abfallenden Quinten können unterschiedlich sein (E Sheberakh); die melodische Entfaltung unterliegt strengen Regeln (Hierarchie zwischen den Graden: Kadenz-Noten, Halbkadenz-Noten, usw.) und der Verwendung von Formeln und Motiven, welche für den Modus charakteristisch sind [9]AVENARY, Hanoch, “Shtayger”, Encyclopaedia Judaïca, Jerusalem, Keter Publishing House, 1972, vol. 14, pp. 1464-1466..

 Die Rhythmen, welche in der Regel binär sind, übernehmen die Eigenschaften der Tänze, auf welche sie sich beziehen (Khosidl, Hora, Terkish, Sirba, usw.). Dennoch kann es in bestimmten Stücken (beispielsweise Taksim oder Doina) oder innerhalb eines Stücks, ungemessene Passagen geben: die Begleitung, welche oft mit dem Akkordeon oder dem Cymbalom gespielt wird, begnügt sich damit, eine Note oder einen Akkord zu halten, auf welchen der Solist dann die Melodie improvisiert.

Ursprünglich variierte das Tempo je nach Stimmung oder Publikum: Es wurde schneller, wenn die Stimmung ausgelassener wurde und langsamer, wenn sich eine Großmutter den Tanzenden anschloss. Diese Anpassung an die Umstände ist auch in der Art und Weise zu spüren, wie die Stücke endeten: ein schneller chromatischer Anstieg zu der melodischen und harmonischen Sequenz VIII – V – I, welche meist langsamer als der Rest des Stücks gespielt wird, ermöglichte es das Stück schnell und jederzeit, entsprechend den Ereignissen (Einzug der Braut, Ankündigung eines Geschenks, usw.), enden zu lassen.

Die traditionelle Klezmer war eine rein funktionale Musik, verbunden mit der aschkenasischen jüdischen Lebensweise. Heute ist das etwas anders: Wie der Jazz entwickelte sich die Klezmer zu seinem eigenen Genre, sie wird von Künstlern aller Herkunft und Religionen gespielt und hat sich auch auf der Bühne bewährt. Zu bemerken bleibt, dass die Besonderheiten der Klezmer, durch den Universalismus seiner Inspiration auf bestimmte Weise aufgehoben wird: eine Mischung aus populärer rumänischer, russischer, polnischer, ukrainischer, litauischer, ungarischer, griechischer, osmanischer (türkischer oder arabischer) und vor allem zigeunerischer Musik – Handelt es sich bei der Klezmer also um einen der ersten Vertreter des Fusion-Musikstils?

Doch durch die Abkehr von seiner ursprünglichen Umgebung und Funktion, riskiert die Klezmer auch einen Identitätsverlust. Wie die Soziologin Barbara Kirshenblatt-Gimblett feststellte, ist der Übergang von „traditioneller Musik“ zu „Heritage music“ nicht ungefährlich.[10]Cf. KIRSHENBLATT-GIMBLETT Barbara, « La renaissance du klezmer : réflexions sur un chronotope musical », Cahiers de Littérature Orale, n°44, 1998, pp. 229-262. Insbesondere die folgende … Lire la suite

Heute bewegen sich die Klezmer-Musiker zwischen Tradition und Modernität. Die einen beweisen der Vergangenheit ihre Treue, durch die originalgetreue Reproduktion der Klänge und Arrangements. Die anderen haben durch das Spiel auf Hochzeiten und anlässlich von jüdischen Feiertagen, die paraliturgische Funktion der Klezmer bewahrt. Wieder andere – bei Weitem die meisten – verbinden ihre Musik mit zeitgenössischer Musik oder mitunter auch Jazz, Weltmusik…

Aber ist die Klezmer nicht doch eine Hochzeitsmusik?

logo_clap_video.jpgSchauen Sie sich das Video der Konferenz an „Le renouveau du klezmer“ – Hervé Roten und Denis Cuniot

References
1 Wie kann vergessen werden, dass das jüdische Volk mehr als die Hälfte seiner Existenz außerhalb seiner nativen Heimat verbracht hat? Bis zu dem Punkt, dass der griechische Begriff „Diaspora“ (Zerstreuung), welcher sich zunächst nur auf die entwurzelten Juden bezog, heute Teil der Umgangssprache geworden ist und exilierte ethnische Minderheiten bezeichnet (chinesische Diaspora, armenische Diaspora, usw.)!
2 Ein nicht unbedeutender Teil der Dokumentation des vorliegenden Artikels entstammt der Internetseite von Michel Borzykowski (http://borzykowski.users.ch), welcher eine bemerkenswerte Synthese-Arbeit dieses Themas geleistet hat. Ihm sei an dieser Stelle gedankt.
3 Interview mit dem Kantoren Shalom Berlinski (1918-2008), geführt am 24. September 2003, aufgenommen von H. Roten.
4 Dieser Austausch zwischen Juden und dem Fahrenden Volk ist das Ergebnis eines gemeinsamen Schicksals (gleicher niederer sozialer Status, Wanderleben), sowie einer Vorliebe für orientalisch inspirierte Musik. Die Doina ist ein trauriges Lied und ein Beispiel für Musik, welche sowohl von den Juden als auch vom Fahrenden Volk gespielt wird. Einer der Schöpfer der ungarisch-zigeunerischen Musik ist Mark RozsavölgyI (1787-1848), der mit bürgerlichem Name eigentlich Mordchele Rosenthal hieß. Sein Zigeunerorchester bestand ausschließlich aus Juden, welche als Zigeuner verkleidet waren.
5 PAYEN Dominique, La musique klezmer et les klezmorim de Berkeley, mémoire de Maîtrise, Université de Rouen, oct. 1990, p. 31.
6 SAPOZNIK Henry, Klezmer! Jewish Music from old World to Our World, New-York, Schirmer books, 1999.
7 Der Chassidismus ist eine mystische Bewegung, welche in Podolie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts gegründet wurde. Die Bewegung spricht sich aus, den Zugang zu Gott durch Musik und Tanz herbeigeführte kollektive und ekstatische Erfahrungen, zu erreichen.
8 Der Shtayger (oder Steiger) – ein Begriff der auf Jiddisch „Modus“ „Art / Weise“ bedeutet – ist ein melodisches Muster, welches dem Kantor als Grundlage für die Improvisation dient. Sie besteht aus einer bestimmten Tonleiter, sowie einer Reihe von charakteristischen melodischen Formeln.
9 AVENARY, Hanoch, “Shtayger”, Encyclopaedia Judaïca, Jerusalem, Keter Publishing House, 1972, vol. 14, pp. 1464-1466.
10 Cf. KIRSHENBLATT-GIMBLETT Barbara, « La renaissance du klezmer : réflexions sur un chronotope musical », Cahiers de Littérature Orale, n°44, 1998, pp. 229-262. Insbesondere die folgende Passage: « J’utilise l’expression ’musique patrimoniale’ afin d’établir une distinction entre une musique faisant partie intégrante d’un mode de vie et une musique qui a été choisie pour être préservée, protégée, vénérée et redécouverte, en un mot, un ’patrimoine musical’ ». (pp. 232-233).

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